Sehr geehrte Frau Präsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Universität Leipzig hat zusammen mit der Forschungsgruppe g/d/p schon 2020 Menschen zu Hassrede im Internet befragt, wie sie zu folgender Aussage stehen:
„Ich habe aus Sorge vor Hassrede schon einmal darauf verzichtet, einen Beitrag zu posten oder Beiträge bewusst vorsichtiger formuliert.“
Antworten konnte man in drei Kategorien:
Ich stimme deutlich zu - etwas zu - nicht zu.
Wer schon von Hassrede betroffen war, hat zu 68 Prozent deutlich oder etwas zugestimmt, die bislang nicht Betroffenen zu 37 Prozent deutlich und etwas.
Es interessiert mich brennend, wie die Abstimmung hier im Saal wäre – und auch bezogen auf den analogen Raum. Mit den Worten aus dem Antrag 20/1990.
„Ich habe aus Sorge vor Drohungen, Schmähungen, Verunglimpfungen schon einmal darauf verzichtet, einen Beitrag zu posten oder öffentliche Wortbeiträge bewusst vorsichtiger formuliert.“
Kann sich ja jetzt jeder mal fragen:
Es ist nicht vorgesehen, dass ich von diesem Pult aus Abstimmungen durchführe, deswegen schätze ich die Zustimmungsquote auf 80 Prozent. Wem das nicht einleuchtet, der möge mich gern ansprechen, auch noch nach der Debatte.
Ich möchte in die Runde fragen: Sind wir nicht schon bei der präventiven Selbstzensur?
Hat es die Diskursverschiebung nicht schon geschafft?
Formulieren Sie vielleicht mal was um, fragen Sie sich mehr nach der Wirkung als früher oder haben einen Mitarbeiter, der vorschlägt, man solle das vielleicht mal lieber anders ausdrücken? Auch ein sprachlicher Umweg aus Vorsicht oder Sorge als Vermeidungsstrategie ist eine Selbstzensur.
Meines Erachtens ist unsere Aufgabe nicht mehr nur das Vorbeugen oder das Abwehren von Angriffen, sondern bereits das Zurückerobern von bereits verlorenem demokratischem Raum. Unsere Meinungsäußerungsfreiheit als politisch Handelnde bröckelt bereits.
Die Forschung zu Hassrede im Netz und im Realen zeigt: Sie führt sehr oft zu einem Verstummen – Fachbegriff: „Silencing“, zu deutsch: Stummschalten. Da wird jemand zum Schweigen gebracht. Und wem das in der Politik passiert, für den ist irgendwann ein Punkt erreicht, an dem er droht, sich zurückzuziehen.
Da ist die Kollegin einer anderen Rathausfraktion meiner Stadt. Eine sehr empathische Frau, eher zurückhaltend, die mit den Schicksalen von Menschen immer sehr mitgeht. Sie erzählte mir neulich, sie steht nicht mehr bei uns auf dem Markt am Wahlkampfstand ihrer Partei. Was sie zu Beginn des Europawahlkampfs dort erlebt hat, war ihr zu heftig. Sie fühlte sich durch die Anfeindungen persönlich bedroht und das hält sie nicht aus. Sie hat auch ihre Gremienarbeit für die Fraktion reduziert.
Liebe Mit-Abgeordnete, gerade auch den Ehrenamtlern gilt unser Schutzauftrag. Wir brauchen in unseren Gemeindevertretungen ganz normale Menschen, die einfach Lust und Zeit haben, sich einzubringen, die vielleicht auch mit dem Sozialraum politischer Betrieb noch nichts zu tun hatten. Wir brauchen die ganze Vielfalt der Gesellschaft in unseren Kommunalparlamenten. Menschen mit unterschiedlicher Prägung, mit unterschiedlicher Ausdrucksfähigkeit. Der robuste Landtagsmensch, der seit Jahrzehnten jeden Anwurf rhetorisch ebenso elegant wie blitzschnell pariert, ist nicht der politische Normalfall. Es ist fatal, wenn Menschen von einem Engagement Abstand nehmen, aus Sorge, welche Angriffe ihnen da drohen und aufgrund ebensolcher schlechter Erfahrung. Für sie brauchen wir eine partei- und fraktionsübergreifende Solidarität im politischen Alltag.
Auch an politischen Hauptberuflern gehen Verbalattacken je nach Dauer, Häufigkeit und Intensität nicht spurlos vorbei.
Wer das jetzt so gar nicht auf sich beziehen kann, der wird aber mit mir feststellen müssen, dass es eine weitere Gefahr gibt, die mit Hassrede einhergeht, mit Drohungen, Schmähungen und Verunglimpfungen: die „Radikalisierung“ derjenigen, die so sprechen und posten. Worte können zu Taten werden. Andere hören diese Bedrohungen. Es schaukelt sich auf. Und ab und zu setzt einer eine Bedrohung um.
Und: Es ist mittlerweile eine Arbeitsmethode von Extremisten, einzelne Personen isoliert herauszupicken, zu diffamieren und mürbe zu machen, möglichst bis sie aufgeben. Und dann weiter zum nächsten.
Da gibt es Hausbesuche bei haupt- und ehrenamtlichen Bürgermeistern, Fackelmärsche, kotbeschmierte Autos. Briefe, die in Wahlkreisbüros auf dem Schreibtisch von Angestellten landen, mit unbekannten Pulvern darin.
Und die Kreise gehen mittlerweile über die originär politische Szene hinaus:
Ein Gastwirt, Pächter eines Lokals in meinem Landkreis, der zustimmt, dass ein öffentlicher politischer Stammtisch einer Partei mal wieder bei ihm stattfindet, wird bedroht und eingeschüchtert, schon vor der Veranstaltung. Man droht ihm, er werde weniger Kunden haben, wenn er den Stammtisch ermöglicht. Und als die Veranstaltung beginnt, betreten acht exponiert gekleidete Menschen das Lokal, um die Veranstaltung politisch aufzumischen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle die These auf: Wir sind es noch nicht gewohnt, dass es hier bei uns immer mehr Mut braucht, Freiheit zu leben.
Noch ein schleswig-holsteinischer Fall, wenige Tage her: Die Verbrennung der Regenbogenbanner in Flensburg. Wer auch immer das gemacht hat und wer auch immer im Nachhinein damit sympathisiert hat, dem sei gesagt: Wir halten die Freiheit aller, die den Christopher Street Day feiern wollen, hoch. Unser öffentlicher Raum ist für diese bunten, selbstbewussten Paraden und Veranstaltungen da. Niemand wird gezwungen, sie zu mögen. Aber er muss sie selbstverständlich hinnehmen.
Und deshalb wollen wir uns gemeinsam, die wir hier in dieser Legislaturperiode extremistenfrei arbeiten, gemeinsam unsere Landesverfassung und die des Landesverfassungsgerichts, auch die Geschäftsgrundlagen unserer parlamentarischen Arbeit auf Extremismusfestigkeit überprüfen und gegebenenfalls miteinander Wege finden, um diese Festigkeit zu erhöhen. Wir machen uns mit den heutigen Beschlüssen, die wir fassen wollen, auf, nicht aus Angst, sondern aus Vernunft, operativ nachzuschärfen, und das ist der Einstieg in ein Arbeitsprogramm.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche jedem Einzelnen, dass er und sie weiter mutig Politik machen kann, voller Überzeugung, äußerlich und innerlich frei. Vielen Dank.
Empfehlen Sie uns!